Annette Burrer, Vernissage zur Ausstellung „Warten“

2011, Wiehrebahnhof Freiburg / Eröffnungsrede von Judith Neumann


Annette Burrer wurde 1973 in Brackenheim bei Heilbronn geboren. Nachdem Sie schon in ihrer Kindheit gerne und viel gemalt hatte, nahm sie während ihrer Ausbildung zur Erzieherin den ersten Zeichenunterricht. Auch neben der Tätigkeit als Erzieherin und dem darauffolgenden Studium der Sozialpädagogik malte Annette weiter – zunächst oft abstrakt bzw. abstrahierend.

Der Wunsch, das "Handwerk" Malerei richtig zu erlernen führte Annette Burrer um 2003 zur Entscheidung, sich für das Kunstkolleg der VHS Freiburg anzumelden und, etwas später, Kurse an der europäischen Kunstakademie Trier zu belegen. Dieser Schritt fiel zusammen mit der bewussten Entscheidung für die gegenständliche Malerei bzw. Zeichnung.

Malerei und Zeichnung ist für Annette Burrer "gesteigerte Wahrnehmung", die sie dazu führt, bestimmte Phänomene bewusster wahrzunehmen und sich zu besonderen Themen Gedanken zu machen.

Nicht zuletzt ihre vielen – oft unfreiwilligen – längeren Aufenthalte an Bahnhöfen auf dem Weg zur Arbeit oder auf Reisen, gaben Annette Burrer den Impuls, sich künstlerisch und gedanklich intensiv mit dem Thema "Warten" auseinanderzusetzen. Ergebnis dieser Auseinandersetzung sind die in dieser Ausstellung gezeigten Zeichnungen und Bilder.


Ihre Bilder und Zeichnungen sind für Annette Burrer immer Ausdruck des Dialoges mit sich selbst und dem, was sie um sich herum wahr nimmt. Und genau zu diesem Dialog zwischen innen und außen sollen ihre Bilder den Betrachter auch anstoßen: Hier ist nicht einfaches Erkennen des Gegenstandes gefragt – auch wenn dies alleine aufgrund der gegenständlichen Malweise nahe zu liegen scheint - sondern ein "Ins-Gespräch-treten- mit dem Bild", ein "In-sich-Hineinhorchen", was das Bild auslöst.

Natürlich kann man gerade in den Bahnhofsbildern einfach nur x-beliebige Wartende an Bahnhöfenerkennen. Dies ist die ja auch die am weitesten verbreitete Art und Weise, Bilder anzuschauen: Kurz stehen bleiben, Schildchen lesen, Thema wiedererkennen, weitergehen

Dies ist natürlich legitim, denn der ästhetische Reiz eines Bildes lässt sich auch auf diese Art und Weise erkennen. Allerdings erfasst man bei dieser Art, die Gemälde anzuschauen, nur eine oberflächliche Ebene der Werke.


Interessant wird es, wenn man als Betrachter beginnt, sich mit dem dahinter stehenden Thema zu beschäftigen. Dies klingt etwas abstrakt, daher vielleicht ein Beispiel:

Ein holländisches Prachtsstillleben zeigt wunderschöne, kostbare Gegenstände – Glaspokale, Silbergeschirr, Nautilusschalen, eine kostbare Decke; alles wunderbar gemalt. Ist das Bild also einfach nur eine Abbildung von Besitztümern eines reichen Kaufmannes? Warum liegt dann ein Totenschädel zwischen dem Geschirr; was soll die verloschene Kerze? Die Kostbaren Gegenstände verweisen auf den Wohlstand des Auftraggebers – das Bild hat also jenseits der ästhetischen auch eine repräsentative Funktion. der Totenschädel verweist auf die Vergänglichkeit, deren sich der Auftraggeber bewusst ist – also eine religiöse Ebene.

Übertragen auf die Bilder von Annette Burrer: Hier werden aus Abbildungen von Bahnhofsszenen Bilder zum Thema "Warten", die, sofern der Betrachter sich darauf einlässt, zu eigenen Überlegungen und Gedanken einladen.

Womit wir beim Thema „Warten“ sind - einem Thema, das mit Sicherheit jeden von uns umtreibt – dauernd!


Natürlich haben sich bereits viele Künstler, Literaten und auch Kunsthistoriker mit diesem Thema beschäftigt und man könnte Annettes Bilder nun versuchen einzuordnen in die lange Liste der Gemälde von Wartenden. Interessanter erscheint mir aber, dem nachzuspüren, was die Bilder beim Betrachter auslösen. Lässt man sich auf das Thema ein, so stellt man schnell fest, dass das Warten, mit dem man spontan meist etwas Negatives verbindet auch positive Aspekte hat:

  1. Warten ist ja nicht nur das nervtötende Warten auf verspätete Züge, das untätige Sitzen im Wartezimmer, das Warten in der Supermarktschlange oder trödelnde Kinder, Warten auf den richtigen Partner oder bessere Zeiten!

Warten ist auch das freudige Warten auf die Geburt eines Kindes; gespanntes, von Vorfreude geprägtes Warten auf den Geburtstag, Weihnachten oder den Urlaub. Es löst positive Gefühle wie Vorfreude, Spannung, Neugier und Hoffnung aus !

  1. Warten kann erstaunlich produktiv sein!

Mit „Warten“ verbindet man ja meist lähmende Untätigkeit – wie in Samuel Becketts Theaterstück "Warten auf Godot", in dem die beiden Protagonisten vergeblich auf eine Person namens Godot warten, die nie erscheint, die aber ihr ganzes Denken und Tun blockiert. Hier wird das Warten zum Selbstzweck und blockiert alles andere. Doch ist Warten tatsächlich so sinnlos?

Der Film„Die Reise der Pinguine“ handelt von den langen Wanderungen der Kaiserpinguine zu ihren Brutstätten in der Antarktis. Mich hat beeindruckt, wie die Pinguine bei den unglaublichsten Minustemperaturen und Schneestürmen ausharren, um das Ei zu hüten, während der Partner zurückwandern muss, um zu fressen. Dieses Warten hat einen Sinn – das einzige Ei bzw. später das einzige Junge zu schützen.

Warten kann also durchaus einen Sinn haben und sogar produktiv sein! Nehmen wir Annette Burrers Bilder: Die meisten der Bilder, die hier präsentiert werden, wären ohne die Wartesituation gar nicht entstanden! Annette nutzte ihre Wartezeit, um Menschen um sich herum zu beobachten: Wie verhalten sich andere Wartende? Sind sie ruhig, gelassen, genervt, unruhig, gelangweilt? Wie spiegelt sich diese Gemütslage in ihren Gesichtern; ihrem Verhalten?

  1. Warten zwingt uns zum Innehalten!

Wartesituationen sind uns deshalb so verhasst, weil sie uns ausbremsen und zur Tatenlosigkeit zwingen! Meist versuchen wir, die entstandene Zeitlücke zu füllen: telefonieren, lesen, unterhalten. Oder aber, wir nutzen diese Zeit, wie Annette Burrer, zum Innehalten, Beobachten und in uns hineinhorchen...


Warten ist also, wie sich bei näherem Hinsehen herausstellt, nicht so sinnlos, wie es zunächst erscheinen mag, sondern ein durchaus positiver, spannender Aspekt unseres Lebens! Und Warten ist etwas, das es sich lohnt zu lernen!


Dies muss schon Leo Tolstoi klar gewesen sein, als er bemerkte: "Alles nimmt ein Gutes Ende für den, der warten kann."



© Judith Neumann M.A