Vernissage „Stühle“, A. Burrer/S. Schuble, 8.2.2015 / Eröffnungsrede von Judith Neumann

Die meisten von uns verbringen einen großen Teil ihres Alltages im Sitzen. Und wenn wir auch einen Teil unserer sitzend verbrachten Zeit auf dem Fahrrad, beim Sport, in der Straßenbahn, im Auto, auf einer Parkbank oder auf der Toilette verbringen, so spielen doch Stühle vermutlich die wichtigste Rolle in unserem Sitz-Alltag.

Stühle sind omnipräsent in unserem Umfeld – nicht nur als schlichte Sitzmöbel, die eine praktische Funktion erfüllen. Stühle sind weit mehr als das:

Als Statussymbole gehören Designerstühle in jede hippe Wohnung. Stühle kommen in Gedichten und Liedern vor, spielen wichtige Rollen in Theaterstücken oder in Kunstperformances.1An den seltsamsten Stellen, stoßen wir auf Stühle: auf dem Sperrmüll, im Wald ausgesetzt, irgendwo im Bach liegend, im Gestrüpp …

Ja und selbst sprachlich begegnen wir ständig Stühlen, wenn auch meist nicht bewusst: Gelegentlich haut uns ein Witz vom Stuhl, wenn wir nicht vor Schreck schon vorher vom Stuhl gefallen sind oder uns zwischen die Stühle gesetzt haben.

Und ab und an kommen wir in die unangenehme Situation, jemandem den Stuhl vor die Tür stellen zu müssen.

Gründe gibt es also genug, sich über das Sitzen und über Stühle Gedanken zu machen. Und wenn auch Nietzsche der Meinung war, dass keinem Gedanken zu trauen sei, der einem im Sitzen kommt2, dann bleibt doch immer noch die Möglichkeit, sich - wie Annette Burrer und Susanne Schuble - künstlerisch mit dem Thema „Sitzen“ auseinanderzusetzen.

Anette Burrer Und Susanne Schuble kennen sich vom Kunstkolleg der VHS Freiburg, wo sie zusammen die Qualifikationsstufe absolvierten. Auch nach Ende dieser Zusammenarbeit in der Qualistufe blieb der Kontakt erhalten und die beiden trafen sich bei Maltreffs der VHS oder zu gemeinsamen Ausstellungsbesuchen.

Auf einem dieser Kunstausflüge – bezeichnenderweise zum Vitra-Design-Museumin Weil, das ja ursprünglich für die Stuhl-Sammlung des Möbelherstellers entstand – stellten die beiden im Gespräch fest, dass sie sich seit Jahren unabhängig voneinander künstlerisch mit dem Thema Stühle beschäftigen.

Aus dieser Erkenntnis entstand im Jahre 2013 die Idee einer ersten gemeinsamen Ausstellung im roccafé Denzlingen. Damals entstanden auch Texte zu den Bildern, zu denen sich die Teilnehmer der VHS-Schreibgruppe inspirieren ließen.

 

Susanne Schuble fotografiert seit einigen Jahren „ausgesetzte“ Stühle. Irgendwann war ihr aufgefallen, dass es unzählige dieser vereinsamten Sitzmöbel gibt, die an den erstaunlichsten Stellen ausgesetzt werden: auf der Straße, irgendwo in der Stadt, in der Natur – und so kam sie auf die Idee, dass es spannend sein könnte, diese aus ihrer normalen Umgebung herausgerissenen Objekte in Szene zu setzen.

Susanne Schuble begegnet den Stühlen zufällig oder wird von Freunden und Bekannten, die um ihre Beschäftigung mit dem Thema wissen, auf herrenlose Stühle hingewiesen. Das Auffinden und Fotografieren ist Teil des Konzeptes – weshalb Susanne Schuble keine Fremdfotos verwendet. Doch der Weg zum Stuhl ist mitunter beschwerlich : wie hinkommen, wenn das Exemplar an abgelegener Stelle steht und man kein Auto besitzt?

Da kann es schon vorkommen, dass Susanne im Wald am Schönberg herumirrt, auf der Suche nach einem Stuhl, den Annette Burrer im Wald entdeckt hat – und der, als Susanne sich an Ort und Stelle begibt, dann plötzlich verschwunden ist…

 

Am Anfang steht also der Zufall – auch wenn die Fotos von z.T. so wirken, als wenn die Stühle für das Foto bewusst an dieser Stelle arrangiert wurden. Susanne Schuble geht von dem aus, was sie zufällig vorfindet und setzt einen bis dahin völlig unbedeutenden Stuhl in Szene. Dem Betrachter bleibt es dann überlassen sich angesichts der Fotografien Fragen zu stellen oder sich zu Geschichten zu den Stühlen inspirieren zu lassen: Wie kommen diese Stühle dahin, wo sie jetzt stehen? Warum wird ein intakter Holzstuhl einfach im Gestrüpp ausgesetzt? Saß hier jemand beim Picknick oder ist dies verschleppter Sperrmüll? Wer macht sich die Mühe, einen Stuhl in den Wald zu tragen? Ist der Stuhl am Strand von Malta als Aufforderung zu verstehen, die Aussicht zu genießen? Und wieso spießt jemand einen billigen Plastikstuhl auf eine Eisenstange? Fand hier jemand Gefallen an der Idee, einen Stuhl aus Massenproduktion – also einen „Stuhl von der Stange“ auf eine Stange zu spießen?!

 

Auch Annette Burrer beschäftigt sich seit Jahren künstlerisch mit dem Thema Stühle. Im Gegensatz zu den real vorgefundenen Objekten, die Susanne Schuble fotografiert, zeigen Annette Burrers Gemälde ausgedachte, konstruierte Stühle - also reine Kopfbilder: einzeln in Szene gesetzt, in Reihungen, in einer Landschaft.

Wie Susanne Schuble kam auch Annette Burrer eher zufällig dazu, sich den Sitzmöbeln zu widmen: Als sie sich im Rahmen der Qualifikationsstufe ausführlich mit dem Thema „Warten“ auseinandersetzte, stieß sie zwangsläufig auch auf viele Stühle – denn wo gewartet wird, stehen meistens auch Stühle

 

Auf wen warten zum Beispiel die Stühle, die auf einigen der Bilder im Kreis oder in Reihen aufgestellt sind? Wer soll auf Ihnen sitzen – oder saß auf ihnen? Trifft sich hier eine Selbsthilfegruppe? Oder eine Kindergartengruppe? Oder handelt es sich um einen Theatersaal, in dem die bereitgestellten Stühle auf das Publikum warten?

Mir kommt bei diesen Bildern Ionescos absurdes Theaterstück„Die Stühle“in den Sinn, in dem ein altes Ehepaar permanent Stühle herbeischleppt für die erwarteten Gäste. Doch während die Bühne am Ende vollsteht mit Stühlen, bekommt das Publikum die Gäste, die auf den Stühlen sitzen sollen, nie zu Gesicht – sie werden zwar wortreich begrüßt, sind aber scheinbar nur in der Phantasie der Protagonisten anwesend. Die Gäste selbst bleiben unsichtbar - wie die rätselhafte Person, die in einigen von Annettes Bildern nur durch ihren Schatten anwesend ist.

Auffallend ist, dass Annett Burrer’s Stühle meist in ungeklärten Raumsituationen stehen. So in der Serie „Weißer Stuhl“, deren Ausgangspunkt ein Gemälde mit einem Stuhl vor Schwarzwaldlandschaft war. A.B. spielt hier mit unterschiedlichen Realitäten, mit Raum und Illusion; Wie in den Fotografien von Susanne Schuble bleibt hier Spielraum für die Phantasie des Betrachters:

Steht der Stuhl drinnen oder draußen? Steht er nicht eher gleichzeitig drinnen UND draußen?! Gibt es überhaupt ein „drinnen“ oder liegt der Teppich im Freien und die Wand links gehört zu einer Kulissenarchitektur? Ist „Draußen“ überhaupt draußen, oder nicht vielleicht eine Fototapete?

 

In der bereits zuvor angesprochenen Bildserie , die ich hier die „Schattenstühle“ nennen möchte, stellt Annette Burrer mit knappen Bildmitteln und reduzierter Farbigkeit die Stühle selbst mehr in den Mittelpunkt. Hier interessiert sie vor allem die Spannung, die aus der Reihung der Stühle und dem Spiel zwischen ihren klaren Linien und ihren Schatten entsteht. Raumangaben fehlen meist; der Betrachter erhält keinen Hinweis darauf, wie groß der Raum ist, in dem sich die Stühle befinden – wenn sie sich denn überhaupt in einem Raum und nicht im Freien befinden. Denn auch die Lichtquelle, die einem vielleicht weiterhelfen könnte, ist nicht sichtbar…

Auch wenn Susanne Schuble und Annette Burrer mit unterschiedlichen Medien arbeiten, so sind doch einige Gemeinsamkeiten in ihren Bildern zu entdecken:

Da ist zunächst die Aufhebung der Trennung zwischen Innen und außen:

So wie Annette Burrer‘s weißer Stuhl etwas hilflos zwischen den (Bild)-Welten hängt, so zeigen Susanne Schuble‘s Fotografien oft Stühle, die ganz eindeutig für den Innenraum gedacht sind, nun aber etwas deplaziert im Freien stehen: der Bürostuhl vor dem Schaufenster, der gepolsterte Küchenstuhl an der Straße, der Holzstuhl, der ursprünglich sicher mal zu einer Eckbank gehörte, im Gestrüpp.

 

Was ich selbst allerdings am auffälligsten finde, ist die Tatsache, dass die Stühle in den hier gezeigten Bildern ausnahmslos leer - unbesetzt – sind! Diese Stühle scheinen völlig ihrer eigentlichen Funktion beraubt; denn wozu ist ein Stuhl nützlich, wenn nicht zum Sitzen!

Diese Stühle hier wirken allesamt ziemlich verlassen und einsam: da steht auf einer Fotografie von Susanne Schuble ein weißer Plastikstuhl, getrennt durch ein Gitter, mit dem Rücken zu zwei anderen Stühlen derselben Gattung – fast wirkt er ein bisschen ausgegrenzt.

Und wirken die beiden weißen „Schattenstühle“ von Annette Burrer, die sich leer gegenüberstehen, nicht fast wie ein sich schweigend gegenübersitzendes Paar?

 

Sowohl Annette Burrer als auch Susanne Schuble zeigen die Stühle außerhalb ihres „normalen“ Kontextes – deplaziert und verloren wirken diese ihres Umfeldes beraubten Sitzmöbel, aber zugleich auch einladend…wenn schon nicht um Sitzen, dann zum Betrachten und Geschichten ausdenken.

1 Marina Abramovic, The Artist is present: Über die ganze Dauer der Retrospektive im Moma 2010, also gut 600 Stunden lang, saß Abramovic still auf einem Stuhl und fungierte als Spiegel für den Betrachter

2 "So wenig wie möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung - in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern."(Nietzsche: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist)

 

 

© Judith Neumann